im Juni 2024

Liebe Leserin, lieber Leser,

Foto: Henning Soffers
Foto: Henning Soffers

in der münsterschen Kulturszene ist Dorothée Kerstiens keine Unbekannte. Zunächst verband ich mit ihrem Namen das Café Grotemeyer, aber dies war zu kurz gegriffen. Ihre Vielseitigkeit und Kreativität - verbunden mit großem Optimismus, Entdeckergeist und Tatendrang - immer wieder Neues zu wagen, zeichnen sie aus.

 

Unser erster Kontakt liegt einige Jahre zurück. Als sie mich vor kurzem in ihre Interview-Veranstaltung ,Auf ein Stück Torte mit...' ins Lemperhaus einlud, war meine Neugier geweckt, mehr über ihr Leben zu erfahren. Im übrigen war es dank ihrer einfühlsamen Gesprächsführung eine unterhaltsame, vergnügliche Veranstaltung.

 

In dem darauffolgenden Treffen erzählte mir Dorothée unendlich viel aus ihrer Kindheit, ihrem Erwachsenwerden und den späteren Jahren. - Ein aktives Leben, wie ein Kaleidoskop mit seiner Vielfalt wechselnder Formen und bunter Farben, mit Höhen, Tiefen und Brüchen.


Dorothée Kerstiens - Geht nicht, gibt's nicht

Elternhaus und Kindheit

Roxel - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank - Stadtarchiv)
Roxel - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank - Stadtarchiv)

Dorothées Elternhaus ist konservativ, katholisch geprägt. Vater Paul Zöller stammt aus dem Siegerland und arbeitet als Jurist bei einem Wohnungsunternehmen in Münster. Die Mutter Barbara musste ihre Heimat Schlesien nach dem Krieg als Flüchtling verlassen.

 

Roxel gehört noch nicht zu Münster, als die Zöllers dort auf grüner Wiese 1966 ihr Wohnhaus bauen. Das Dorf ist zu dieser Zeit noch sehr ländlich geprägt und nur gering bebaut. Rund um die Kirche stehen ein paar Häuser. Gleich dahinter schließen sich Felder und Wiesen an. Eine ruhige, ländliche Idylle.

 

Das ändert sich in den folgenden Jahren schnell. Roxel ist inzwischen ein beliebter Wohnort  und wird 1975 als neuer Stadtteil Münsters eingemeindet.

Aus Dorothées Erinnerungen: Die Mutter

Was meine Mutter uns allen ganz stark mitgegeben hat und was sie über ihre frühe Flucht aus Schlesien herübergerettet hat, ist die Liebe zur Tischkultur, die Gastfreundschaft und die Liebe zur Literatur. Bei uns zu Hause waren Gäste immer willkommen, auch meine Freundinnen und Freunde, und es war immer selbstverständlich, jeden zufällig hereinschneienden Gast mit an den Tisch zu bitten.
... und sie hätte doch ein Junge werden sollen - Dorothée mit ihren Schwestern
... und sie hätte doch ein Junge werden sollen - Dorothée mit ihren Schwestern

Zöllers wünschen sich nach drei Mädchen endlich einen Jungen, der Theodor heißen soll. Aber dieser Traum erfüllt sich nicht. Statt Theodor heißt das Mädchen Dorothée, das 1964 geboren wird. Mit der Wahl dieses Namens haben sich ihre drei älteren Schwestern durchgesetzt, die zudem Wert auf die französische Schreibweise mit dem accent aigu legen.

 

Die Eltern haben neben Arbeit und Hausbau wenig Zeit, sich um Dorothée zu kümmern, und so übernehmen die Schwestern häufig diese Aufgabe. Dies klappt in der Regel sehr gut, denn Dorothée ist wenig zimperlich, auch wenn einmal der Kinderwagen auf dem Spielplatz mit ihr umkippt.

 

Die Grundschulzeit in Roxel genießt sie in vollen Zügen, spielt mit Jungen und Mädchen und wirkt mehr oder weniger burschikos in ihrem Auftreten. Vielleicht liegt es auch daran, dass sie eigentlich ein Theodor werden sollte, verrät Dorothée heute mit einem Augenzwinkern.

 

Alle Kinder ihrer Klasse gehen anschließend aufs Schiller-Gymnasium, nicht aber Dorothée. Die Eltern - Vater Paul hat eine humanistische Bildung - beschließen zu ihrem Leidwesen, sie aufs Annette-Gymnasium zu schicken. Die 2. Fremdsprache ist Latein, und es ist der letzte reine Mädchenjahrgang. Beides gefällt Dorothée gar nicht.

Aus Dorothées Erinnerungen: Pünktchen und Anton

Ich hatte das Glück, vieles „im Vorbeigehen“ von den Großen lernen zu können. Ich erinnere mich, dass ich als kleines Mädchen am Tisch saß und malte, während meine Mutter mit meiner älteren Schwester Hausaufgaben machte. Als ich eingeschult wurde, konnte ich lesen, schreiben und rechnen. Das Lesen hatte ich mir mit 5 Jahren selbst beigebracht. Ich weiß noch, wie wir im Auto saßen auf dem Weg in den Familienurlaub und ich eifrig „Pünktchen und Anton“ von Erich Kästner las. Meine Schwestern machten sich über mich lustig: ,Du kannst doch gar nicht lesen!' Na, dann lies uns doch mal was vor! Und das tat ich dann.

Dorothées Lebensmittelpunkt ist Roxel. Sie kennt in dem kleinen Ort Hinz und Kunz und ist bestens vernetzt. Mit 16 Jahren lässt sie sich als Vertreterin der Jugend in den Pfarrgemeinderat wählen. Zu dieser Zeit folgt ihr Einstieg in die Pressearbeit. Ohne digitale Unterstützung wird in jenen Jahren die Zeitung produziert. Dorothée lernt dabei sehr viel, angefangen vom Texten und Layouten. Willi Hänscheid bringt ihr die Grundlagen des Fotografierens bei. All das wird für ihr späteres Leben sehr hilfreich sein.


Fortan schreibt sie für Roxel und die umliegenden Orte, später arbeitet sie auch in der Stadtredaktion und als „Springerin“ im Umland, wo immer jemand gebraucht wird. Das macht sie mit Leib und Seele. Mehr oder weniger nebenbei macht sie ihr Abitur. Später weiß sie das ungeliebte Latein als Grundlage fürs Erlernen anderer Sprachen zu schätzen.

 

In dieser Zeit hat sie zum Entsetzen der Eltern einen Punker als Freund: sie im Trenchcoat und knallroten Humphrey-Bogart-Hut, er im provozierenden Punker-Style. Aber das Aussehen täuscht in Wahrheit über sein bürgerliches, konservatives Wesen hinweg.

Aus Dorothées Erinnerungen: Der Punker

Da war mein „Punkerfreund“, der zwar provokant und etwas wild und unkonventionell und mit Anarcho-Sprüchen auf der zerrissenen Jeans und langer Mähne daherkam, aber ausgesprochen nett war und überdies noch sehr straight Medizin studierte. Im Sommer 1984 tourten wir gemeinsam mit winzig kleinem Budget per Interrail durch Europa. Das Zelt, das wir als Beruhigungspille für meine armen Eltern mitnehmen mussten, haben wir artig quer durch Europa geschleppt, aber es kam nicht zum Einsatz. Stattdessen haben wir vier Wochen wirklich komplett draußen gelebt, den Rucksack immer auf den Schultern, alles per Zug oder zu Fuß. Meist schliefen wir einfach draußen.

 

In Nizza sah ich zum ersten Mal in meinem Leben das Meer und holte mir gleich den heftigsten Sonnenbrand meines Lebens. Und sonst: Amsterdam, Paris, Südfrankreich, Wien, quer durch Jugoslawien nach Griechenland. Peleponnes bewandert. Es war anstrengend und gleichzeitig eine abenteuerliche Erfahrung, wie es ist, tatsächlich für eine Weile ohne jeden Luxus „auf der Straße“ zu leben. Wir wuschen uns meist im Meer oder an Bahnhöfen. Meine ältere Schwester behauptet heute noch, wir hätten martialisch gestunken, als sie uns nach vier Wochen vom Bahnhof abholte...

Rückblickend sagt Dorothée, dass sie in diesen Jahren nichts vermisst habe. Der Freundeskreis, die hin und wieder stattfindenden Diskos im Pfarrheim, die Jugendarbeit, der Pfarrgemeinderat und insbesondere die Pressearbeit haben sie voll ausgefüllt.

Studium

Inspiriert von ihrer Zeitungsarbeit und den studentischen Kollegen denkt Dorothée  an die Studienfächer Völkerkunde und Theaterwissenschaften. Sie hat bereits einen Studienplatz in Mainz und möchte das damals eher verschlafene Münster verlassen. Die Eltern beknien sie, in Münster zu bleiben, sie könne weiter zuhause wohnen. Zu ihrem Leidwesen gibt sie dem Drängen nach und belegt die Fächer Neuere Geschichte, Literaturwissenschaften und Politikwissenschaften als Magisterstudiengang.

 

Zu dieser Zeit bekommt sie auch das Angebot, bei der Münsterschen Zeitung ein Volontariat zu machen. Wie verlockend wäre es doch, denkt sie, das Studium zu schmeißen und genau das zu tun, was ihr so viel Freude bereitet. Aber bei Zöllers heißt es immer: Was man anfängt, bringt man auch zu Ende. - Sie bleibt standhaft und gibt ihr Studium nicht auf.

Der Weg in die Selbständigkeit

Ein großer Wendepunkt in ihrem Leben ist die Reise nach Südwestafrika. Ihr Onkel, der dort lebt, schickt ihr ein Flugticket. Seine Söhne wollen das Land bereisen und in den einsamen Fish-River Canyon absteigen, letzteres ist aus Sicherheitsgründen nur zu Dritt gestattet. Sie sei die dritte Person, ob sie wolle, wird sie gefragt. Und ob sie will!
 
Als sie nach knapp zwei Monaten nach Hause kommt, ist nichts mehr wie vorher. Sie will aus der Enge heraus und gründet mit zwei guten Freunden aus Roxel in eine Wohngemeinschaft in der Aaseestadt. Die Eltern sind beruhigt, weil sie sich in guter Gesellschaft befindet. Für ihr Studium muss sie von nun an finanziell auf eigenen Füßen stehen. Dorothée arbeitet u.a. als Verkäuferin in einem Supermarkt und als Aushilfe bei einer Roxeler Mikrofilm-Firma. Sie erlebt, wie hart die Arbeit ist. Sie hat fortan größte Achtung vor Menschen, die Ware einräumen oder an der Kasse sitzen.


Als Dorothée ihr Magister-Examen in der Tasche hat, ändert sie ihre beruflichen Pläne, denn zu diesem Zeitpunkt wird sie Mutter und freut sich auf ihr Kind. Sie entscheidet sich dafür, mit ihrer Tochter Katharina allein in einer eigenen Wohnung zu leben. Ihre Arbeitsstellen wird sie fortan über viele Jahre immer unter dem Aspekt auswählen, wie sie Arbeit und Kinderbetreuung miteinander vereinbaren kann. Jede Station wird zum Lernfeld.

 

So arbeitet sie beispielsweise einige Jahre lang bei einer IT-Firma, bei der es kommunikativ wenig strukturiert - besser gesagt chaotisch - zugeht. Als rechte Hand des Chefs zweifelt sie, ob sie der Aufgabe gerecht wird. Sie kann es. Dorothée lernt hier viel für die spätere berufliche Laufbahn, unter anderem den stressfreien Umgang mit immer neuen Computerprogrammen, Projektmanagement, Messeplanung, internationalen Warenverkehr, PR u.v.m. Nebenberuflich beginnt sie, sich in Kommunikation auszubilden. Das professionelle Kommunikationstraining wird ihren beruflichen Weg als künftige Trainerin und Moderatorin prägen und ist für ihre Arbeit sehr nützlich.

Lernprozesse: Der Chef

Der Chef hat die unangenehme Eigenschaft, sich auf ihren Schreibtisch zu setzen, auf sie herabzublicken und seinen ganzen Ärger und Frust auf sie abzuladen. Dorothée findet dies äußerst unangenehm. - Eines Tages fasst sie sich ein Herz, marschiert in das Büro des Chefs, setzt sich auf seinen Schreibtisch, blickt auf ihn herab und trägt ihr Anliegen vor. Zwar nicht in der vehementen Art, wie es ihr Chef tut, dafür aber höflich.

 

Und siehe da: ihr Chef setzt sich nie wieder auf ihren Schreibtisch. Er hat verstanden. - Wenn sie sich heute nach vielen Jahren sehen, besteht eine freundschaftliche Verbundenheit.

Studentin für die Firma KODAK auf der Photokina in Köln im Einsatz
Studentin für die Firma KODAK auf der Photokina in Köln im Einsatz

In einer evangelischen Gemeinde findet sie eine neue spirituelle Heimat und viel persönliche Unterstützung.


Dorothée konvertiert nach reiflicher Überlegung zur evangelischen Kirche. Der christliche Glaube ist ein wichtiger Bestandteil ihrer Sozialisation und Persönlichkeit.


In diesen Jahren heiratet sie. Die Ehe  ist ein wahres Desaster, nach zwei Jahren trennen sie sich. Dorothée ist an einem echten Tiefpunkt in ihrem Leben und fängt mit Katharina und ihrer Zweitgeborenen Charlotte ganz neu an.

 

Eine besondere Eigenschaft hat sich bei Dorothée in diesen Jahren herausgeschält: der lange Atem. Das heißt, Projekte langfristig, auch über Jahre, zu verfolgen, sich immer wieder neu erfinden. Aufgeben ist keine Option. Mit dieser Hartnäckigkeit und einer gehörigen Portion Optimismus hat sie Ziele erreichen können, die sonst nicht möglich gewesen wären.

Zu neuen Ufern

2007 auf dem ersten gemeinsamen Segelturn mit Michael
2007 auf dem ersten gemeinsamen Segelturn mit Michael

Dorothée möchte im Kreuzviertel wohnen bleiben. Den Kindern soll kein Ortswechsel zugemutet werden. Und so mietet sie eine größere Wohnung, die für ihre finanziellen Möglichkeiten allerdings zu teuer ist.

 

Erinnert an ihre glücklichen studentischen WG-Zeiten fasst Dorothée den Entschluss, ihr Schlafzimmer an Gäste aus aller Welt jeweils für ein, zwei Monate und auch etwas länger zu vermieten. Daraus wird über mehrere Jahre eine internationale Mädels-WG. Sie selbst schläft im Wohnzimmer. Für die Kinder und für Dorothée ist dies eine spannende und prägende Zeit. Sie lernen Schweizerinnen, Italienerinnen, Russinnen, Brasilianerinnen, Französinnen und Frauen aus vielen anderen Ländern kennen. Übliche Vorurteile und Stereotypen  gegenüber anderen Nationalitäten lösen sich auf. Eine zunächst schwieriger Neuanfang,  aber auch eine tolle Zeit. Dorothée hat das offene und gastfreundliche Haus, das sie sich gewünscht hat.

 

 2006 wird Dorothée angesprochen, in den Tauschring-Vorstand einzutreten. Der Verein spannt ein Nachbarschaftsnetzwerk über die Stadt, vermittelt gegenseitige Hilfe in Alltagsdingen, zum Beispiel einen Computer wieder flott zu machen, einen Antrag bei einer Behörde zu stellen etc. Von den Leuten des Vereins kennt sie niemanden. Aber das soll sich bald ändern.

Zwei-auf-gemeinsamem-Kurs
Zwei-auf-gemeinsamem-Kurs

Im Vorstand hat sie sehr viel mit Michael Kerstiens zu tun. Sie sind ein super Team, haben viele gemeinsame Interessen und werden gute Freunde. Eine Beziehung steht zunächst nicht im Raum. Der Einhandsegler und die ortsgebundene Frau mit der Verantwortung für zwei Kinder – das sind doch zwei vollkommen gegensätzliche Welten. - Beide verspüren zu dieser Zeit nicht den Wunsch auf eine neue Partnerschaft. Ein knappes Jahr geht so ins Land.

 

Michael plant seit längerem eine Weltumseglung, die er nach Zuspruch von Dorothée antritt, obwohl es ihn zu ihr hinzieht. Bereits nach drei Wochen kehrt er zurück. Dorothée ist ihm wichtiger als der Segeltörn. 2008 heiraten sie und haben das Glück, ihr neues Heim in der Wermelingstraße zu finden.

Aus Dorothées Erinnerungen: Die richtige Wahl

Meine WG-Freunde und Mitbewohner Nico und Marie sind übrigens bis heute ein wichtiger Teil meines Lebens. Als Michael und ich ein Paar wurden, sind wir gemeinsam nach Hamburg gefahren, und ich habe ihm meinen Freund Nico vorgestellt. Der schaute uns an und sagte aus tiefstem Herzen: „Endlich der Richtige“. Nico ist unser Trauzeuge geworden.

Der Wermeling-Verlag

Dorothée hat den langgehegten Traum, Drehbücher zu schreiben. Ihr Herz schlägt fürs Schreiben von Geschichten. Sie macht eine Ausbildung in Köln, belegt Seminare bei bekannten Drehbuchautoren und entwickelt ihren ersten Drehbuchstoff. Eine Romantic Comedy, in Münster angesiedelt! Ein Pitch auf der Cologne-Konferenzbringt ihr 2013 den erträumten Vertrag mit einer großen Berliner Produktionsfirma und eine erste Zusage vom ZDF. Aber Filmentwicklungsprozesse sind langwierig -  es können darüber schnell einige Jahre vergehen – und müssen mehrere Nadelöre passieren. Das Projekt scheitert letztlich an der höchsten Stelle des Fernsehsenders: Krimis werden bevorzugt. Dort hat sie keine Möglichkeit, Entscheidungen zu beeinflussen.

 

Aber auch in dieser Zeit hat Dorothée vieles gelernt, was für ihre späteren Bücher und für den eigenen Verlag wichtig ist. Und sie erkennt etwas sehr Wichtiges: sie ist nicht fremdbestimmt, wenn sie ein Buch schreibt und es selbst verlegt.
 

Sie schreibt mit Michael und Dr. Gabriele Kahlert-Dunkel das erste Buch, das Grotemeyer-Buch.

 

Sie hat ihren Weg gemacht, sie ist angekommen.

Und das kommt so: Michael hat bereits als Schüler im Grotemeyer gekellnert. Er ist mit Reinolf Kahlert aus dem Hause Grotemeyer bis zu dessen Tode eng befreundet. Als dann im Jahre 2019 die Schließung des Cafés Grotemeyer ansteht, lädt Dr. Gabriele Kahlert-Dunkel sie zu einem letzten privaten Kaffeetrinken im Café ein. Sie ist die letzte Grotemeyer-Chefin. Ihr Wunsch ist es, die Geschichte des Cafés aufzuschreiben. Sie könne es leider nicht. Michael schaut Dorothée an und sagt zu Gabriele: Ich wüsste schon, wer Dir dabei helfen könnte. Das ist die Initialzündung für das Grotemeyer-Buch.
 
Dorothée führt Interviews mit Gabriele, die vieles über die Geschichte zu erzählen weiß. Dorothée erkennt: es ist vor allem die Geschichte der starken Frauen - nicht die der Männer - die das Café seit 169 Jahren betrieben haben. Und es ist die Geschichte des berühmten Historienmalers Fritz Grotemeyer, Onkel Fritz.

Café Grotemeyer in den 1950er Jahren
Café Grotemeyer in den 1950er Jahren

Natürlich fragt sie nach den Originalrezepten für die Torten und Kuchen, um sie nachbacken und veröffentlichen zu können. Es gibt sie nicht, nur rudimentäre Aufzeichnungen sind vorhanden. Man wollte vermeiden, dass die Rezepturen in falsche Hände gelangen...

 

Mit Hilfe des  langjährigen Konditormeisters Günter Brast gelingt die Rekonstruktion und die Umschreibung für die Privatküche. Dabei müssen die Mengenangaben deutlich kleiner bemessen werden. Waren es in der Konditorei zum Beispiel 50 kg Mehl, ist es nunmehr nur noch ein Pfund. Auch mit der Backzeit verhält es sich oftmals anders als in der Profiküche. Dorothée hat zu Hause nicht den Großofen einer Konditorei, sondern muss mit dem Backofen ihrer Küche zurechtkommen. Sie ist jetzt in ihrem Element. Sie recherchiert, schreibt und backt, übersetzt die Rezepte, Gabi durchforstet das Familienarchiv und aktiviert Zeitzeugen, Michael fotografiert, macht Bildbearbeitung, arbeitet eng mit der Setzerei zusammen bezüglich des Layouts. Alles was zu tun ist, geht aufgrund ihrer Erfahrungen schnell von der Hand.

 

Das Buch wird gedruckt, aufwendig und schön gestaltet. Die erste Auflage ist bereits nach vier Wochen verkauft. Eine Überraschung, denn niemand hat damit gerechnet, weder die Autoren noch der Buchhandel. Dorothée veranlasst schon eine Woche nach erstem Erscheinungstermin  den Druck der zweiten Auflage, eine dritte Auflage folgt wenig später.
 
Der Wermeling*-Verlag ist gegründet und weitere Bücher erscheinen, die sich unterschiedlichen Themen widmen.

 

*Die dem Verlag namensgebende Wermelingstraße ist nach dem Kötterhof Wermeling benannt, der sich dort einst befand.


In der Druckerei Burlage beim Andruck  von „Grotemeyer 2

Ausblick

Lo Graf von Blickensdorf - Foto: Florian Bol
Lo Graf von Blickensdorf - Foto: Florian Bol

Dorothée und Michael gehen gern neue Projekte an, aber immer mit der Frage: Was macht Freude, was inspiriert, was möchten wir in unserer Lebenszeit in Bewegung setzen?
 
Auf einem Spaziergang entdecken sie in der Jüdefelderstraße das Lemperhaus. Nicole Scharte führt dort ihr kleines Genusskaufhaus mit ausgesuchten Produkten. Hier kommt ihnen die Idee, bei gemeinsamen Veranstaltungen im Lemperhaus Grotemeyer-Torten nach Originalrezepten zu servieren. Ein Name ist auch gefunden: ,Auf ein Stück Torte mit...'. Zu der künstlerisch, kulinarischen Reihe werden Gäste zum Podiumsgespräch und Lesungen eingeladen, wie zum Beispiel die Bestsellerautorin Gisa Pauly oder der Künstler Lo Graf von Blickendorf.
 
Die Veranstaltungen sind oft ausgebucht. Neben den delikaten Torten beweist Dorothée  bei der Auswahl der zu interviewenden Persönlichkeiten eine glückliche Hand.

 

Was mag demnächst noch kommen? Wir dürfen gespannt sein.


Fragen und Antworten

Gibt es neue Vorhabe oder Ideen?

Im Augenblick beschäftigen mich in meiner Arbeit vorrangig gesellschaftspolitische Themen, wie Du auch an meinen aktuellen Buchprojekten siehst.


Eine kleine Anekdote?
In meiner Unabhängigkeit eingeschränkt zu werden, konnte ich offenbar noch nie leiden; Mein Lieblingssatz als ganz kleines Kind, als ich gerade sprechen lernte: „Kannse ganz galleine“. Man erzählt sich, ich habe mich mitsamt Laufstall auf Wanderschaft begeben und dabei die Garderobe hinter mit hergezogen, an der der Laufstall umsichtiger Weise befestigt worden war…

Mit einer „Brunnenstaffel“ tritt die Initiative „Dein Brunnen für Münster“ im September wieder zum Münster-Marathon an, um Spenden für den Unterhalt des Brunnens sammeln und neue Brunnenfreunde zu gewinnen. Dorothée trainiert eifrig…  Fotomontage: Michael
Mit einer „Brunnenstaffel“ tritt die Initiative „Dein Brunnen für Münster“ im September wieder zum Münster-Marathon an, um Spenden für den Unterhalt des Brunnens sammeln und neue Brunnenfreunde zu gewinnen. Dorothée trainiert eifrig… Fotomontage: Michael

Wofür engagierst Du Dich?
Ich bin Mitglied der Ambulanten Hospizbewegung, die Schwerstkranke und Sterbende zu Hause begleitet, aber auch Trauernde unterstützt. Ich helfe auf Zuruf gern bei der Öffentlichkeits- oder Pressearbeit.

 

Sehr aktiv engagiere ich mich in der Bürgerinitiative „Dein Brunnen für Münster“, die den Nicole Eisenmann Brunnen „Sketch for a Fountain“ nach den Skulptur Projekten 2017 auf die Kreuzschanze zurückgeholt hat. Der Brunnen öffnet einen Raum zum friedlichen Dialog und ist ein starkes Symbol für Frieden, Toleranz und Vielfalt in Münster.


Worüber ärgerst Du Dich?
Ich bin meist gut gelaunt und ärgere mich nur selten. Wenn doch, dann meist über Alltagsrassismus, Sexismus, Respektlosigkeit oder die Abwertung von Menschen durch andere. Dagegen stehe ich auf und bin sicher auch manchmal unbequem für andere.


Dein Lieblingsgericht?
Antipasti und Tapas!

Ein großer Wunsch?
Das, was sich wohl jeder von ganzem Herzen wünscht, von Gesundheit für alle, Weltfrieden bis …


 

Für mich persönlich fände ich es natürlich wunderbar, wenn es mir gelänge, mit einem Titel des Wermeling-Verlags einmal einen renommierten Buchpreis zu gewinnen.


Würdest Du etwas anders machen, wenn die Zeit zurückgedreht werden könnte?

Substantiell nein, denn letztlich ist ja alles im Leben miteinander verbunden, Schatten und Licht. Ich bin sehr, sehr dankbar für mein Leben und meine Familie. Manches, was ich heute in Buchprojekten und in meinen Seminaren mit jungen Menschen, die ein Freiwilliges Soziales Jahr machen, umsetze und weitergebe, kann ich in der Tiefe auf dem Hintergrund meiner vielfältigen Berufs- und Lebenserfahrungen tun. Gerade weil nicht immer alles leicht war. Im Detail würde ich in einer offensichtlichen Sackgasse schneller die Reißleine ziehen, anstatt gegen Mauern zu klopfen...


Was liest Du gerade?
Den Deutschen Sachbuchpreistitel 2024 von Christina Morina: Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren.


Dein Lieblingsbuch?
Hier drei der vielen: „Was man von hier aus sehen kann“ von Marianna Leky, „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ des von mir sehr verehrten Schriftstellers John Irving und „Meine geniale Freundin“ von Elena Ferrante.


Was stört und gefällt an Münster?
Kein reines Münster-Phänomen, dennoch: Ich beobachte die Mietpreisentwicklung mit Sorge, besonders mit Blick auf Studenten und Menschen, denen es finanziell nicht so gut geht. Und ich denke, dass manch große Projekte besser kommuniziert werden könnten.


Ich bin eng mit Münster verbunden und finde das breite bürgerschaftliche Engagement in unserer Stadt großartig und andere als selbstverständlich. Hier ist vieles möglich.


Was sind Deine aktuellen Bücher?
Uli Michels Buch „Ein Kind in den Sternen“ zur Begleitung von Sterneneltern und begleitenden Fachleuten, das ich lektoriert und verlegt habe, entwickelt sich zu einem neuen Standardwerk. Dahinter steht viel Arbeit. Letztlich geht es ja um ein universelles Thema: Wie kann es weitergehen, wenn uns oder einen nahestehenden Menschen aus heiterem Himmel ein Schicksalsschlag trifft, der alles in Frage stellt? Und was kann jeder von uns tun?



 

In der Herbst-Neuerscheinung der Pflegeprofessorin und Pflegepionierin Christa Olbrich wird es um die Geschichte der Pflege von der Nachkriegszeit bis heute gehen, verwoben mit ihrer eigenen, sehr abenteuerlichen Geschichte, die auch die Emanzipationsgeschichte der Frauen einbezieht und in die Zukunft weist. Eine spannende Frage für uns alle ist doch: Wo geht die Pflege der Zukunft hin? - Und natürlich sind weitere Ideen und Themen in der Entwicklung.


Wohin geht es in den Ferien?
Besonders gern nach Sizilien, wo meine Tochter Katharina mit ihrem Mann Angelo und ihrem kleinen Sohn Nicolò in Palermo lebt.


Zu guter Letzt

Mit Dorothée und Michael habe ich zwei liebenswerte Menschen kennengelernt. Dorothée wurde sich bei meiner Bitte, aus ihrem Leben zu erzählen, vieler Ereignisse und Zusammenhänge wieder bewusst.
 

Dass durch solche Gespräche einiges ausgelöst werden kann, ist eine gute Sache. Das Reflektieren, warum es so und nicht anders gekommen ist, vertieft das Verständnis zur eigenen Person. Vieles geht im Laufe der Jahre verloren und kehrt - wie bei solchen Anlässen - ins Bewusstsein zurück.

 

Die Grotemeyer-Torte habe ich sehr genossen, wie man sehen kann, obwohl ich sie zunächst gar nicht essen wollte, da ich kein Kuchenfreund bin. Aber bei einer solchen Delikatesse kann man nicht nein sagen.


Quellen

Fotos, wenn nicht anders angegeben: Dorothée Kerstiens

Text: Henning Stoffers